Gegen die “Demo für alle”: Weder die Straße, noch die Bildung!
Dies war der Redebeitrag von Solidarisch Unaufgefordert Queer (SUQ) zur Mobilisierung für die Proteste gegen Klerikale, Rechtsextreme und Konservative im Oktober 2016:
Weder die Demo, noch die Bildung!
Die Protagonist_innen der “Demo für alle” am 30.10.2016 in Wiesbaden sind mit allerlei rechtsextremen und rechtsklerikalen Akteur_innen verstrickt, über die einige Engagierte bereits berichten*. Warum wir glauben, dass diese Form rechter Bewegung sich nicht zufällig zur hessischen Lehrplanveränderung positioniert, möchten wir im Folgenden erläutern.
Die Bildung und Ausbildung von jungen Menschen ist nicht einfach nur ein Anlass oder ein Thema bei dem man gut polemisieren kann – auch wenn das “Wohl des Kindes“ sich dazu immer gut zu eignen scheint. Die ProtagonistInnen der Demo für alle verstecken ihre Ideologien nicht hinter dem Thema Bildung, sondern Bildung ist ihr Thema – und es sollte auch unseres sein.
Die Schule
Schule ist der Ort, in dem wir rechnen und schreiben lernen. Vor allem aber lernen wir in ihr Teil dieser Gesellschaft zu sein und ein Verständnis für sie zu entwickeln. Wir lernen die ausgesprochenen und unausgesprochenen Regeln der Gesellschaft zu beachten und den Platz in der Gesellschaft zu wollen, den wir später in ihr einnehmen sollen. Wir üben mindestens neun Jahre lang 35 Stunden die Woche pünktlich zu sein, lernen keine Widerrede zu geben, Grenzen in Karten zu zeichnen und uns auf unsere Rollen in diesem Staat vorzubereiten.
Menschen sollten eigentlich nicht lernen, dass nur das, was als „normal“ betrachtet wird wichtig genug ist, um Beachtung zu finden, dass die Person, die vorne steht, bestimmt was richtig und falsch ist. Aber Bildung und Schule sind eben nicht unabhängig von Gesellschaft und Herrschaftsverhältnissen, sondern in diese eingelassen und reproduzieren sie.
Konservatismus der “Demo für Alle”
Der sogenannten “Demo für alle” gehen schon die kleinsten Änderungen, die das verändern könnten, was in der Schule als normal gilt, zu weit. In ihrer Argumentation beziehen sich die ProtagonistInnen dabei auf ihr angebliches Recht auf Elternschaft. Als Eltern sollte ihnen allein die allumfassende Verfügungsgewalt über die Körper und Köpfe ihrer Kinder zustehen. Sie kennen deshalb auch keine selbstbestimmten Schüler_innen, sondern nur formbare Abbilder ihrer selbst. An ihnen und durch sie wollen sie die Ideologie der Familie als „Keimzelle der Nation“ durchsetzen. Dort und nur dort soll die „richtige“ Erziehung stattfinden. Und so mischen sich in ihrer Argumentation pädagogische Allmachtsfantasien mit der Vorstellung, dass Kinder ihren Eltern „gehören“ würden.
Das funktioniert natürlich nur, wenn sich ausschließlich die „Richtigen“ fortpflanzen, wenn Mütter zu Hause bleiben und Gewalt- und Abhängigkeitsverhältnisse innerhalb der Familie bewusst und willentlich ignoriert werden. Damit sollen gesellschaftlich endlich „klare“ Geschlechterverhältnisse herrschen, in denen alle, die nicht männlich sind, an ihren Platz außerhalb der Öffentlichkeit und Macht verwiesen sind: Endlich das Ein-Ernährer-Modell durchsetzen. Endlich wieder eine homogene weiße Volksgemeinschaft, endlich wieder die gute alte heterosexuelle Familie – in der statistisch übrigens die meiste Gewalt gegen Kinder stattfindet. Damit sollen all die „Perversen“, „Sozialschmarotzer_innen“ und anderen „Anderen“ endlich verschwinden. Die Utopie der „Demo für alle“ ist ein rassistisches Klassenverhältnis, das sogar die aktuelle Elitenbildung in den Schatten stellt. So wie Schule uns aktuell einteilt und formt für den autoritären Neoliberalismus, wollen auch sie Schule für ihre Ideologie nutzen.
Aktuelle Entwicklungen in Baden-Württemberg
In der Debatte um den baden–württembergischen Bildungsplan und jetzt auch in der um den hessischen Bildungsplan hört man, neben der angeblichen „Frühsexualisierung“, dabei vor allem eine „Befürchtung“ der „Demo für alle“: Kinder und Jugendliche könnten zu einem LSBTIQ-Lebensstil verführt werden. Eben das entfacht ihren Zorn, wollen sie doch gerade, dass Schule weiter stigmatisiert und höchstens voyeuristisch den Blick auf gesellschaftliche Ausgrenzungen richtet: das Leben der „Perversen“ am Rand der Gesellschaft. So werten sie zum Beispiel das erhöhtes Suizidrisiko von LSBTIQ-Jugendlichen als Konsequenz ihres Handelns und Lebensstils. Dass der erhöhte psychische Druck dabei nicht durch ein Anders-Sein entsteht, sondern durch die Reaktionen eines homo-und transfeindlichen Umfelds, ist glaube ich klar statt ist glaube ich klar evtl: wird damit unsichtbar gemacht.
Homo- und Transfeindlichkeit auf dem Schulhof
Drei von fünf Sechstklässler_innen verwenden „schwul“ oder „Schwuchtel“ als Schimpfwort; zwei von fünf verwenden „Lesbe“ als Schimpfwort. Die Hälfte der Schüler_innen macht sich über Mitschüler_innen lustig, wenn diese sich nicht geschlechtskonform verhalten. Das zeigt eine Berliner Studie von Ulrich Klocke, in der knapp 800 Schüler_innen aller Schularten befragt wurden. Durch die Menge an verbalen und körperlichen Angriffen ist es nicht verwunderlich, dass LSBTIQ-Jugendliche selten sichtbar sind. 10% der Neunt-und Zehntklässler_innen geben an sich vom gleichen Geschlecht sexuell angezogen zu fühlen. Trotzdem wusste nur eine von 14 Klassenlehrer_innen von einer nicht-heterosexuellen Person in der eigenen Klasse.
Hetero Kinder müssen sich übrigens nicht outen. Sie machen vermeintlich alles richtig: richtige Mädchen schwärmen für Jungs und richtige Jungs reißen Mädchen auf. In einem System, in dem richtig/falsch das herrschenden Ordnungsprinzip ist, ist es verständlich, warum niemand sich traut solche Rollen in Frage zu stellen. Am meisten fürchten sich Jugendliche in ihrem Leben übrigens vor einer Ablehnung durch Freund_innen, durch Familienmitglieder, vor verletzenden Bemerkungen und Problemen in Schule, Ausbildung oder Arbeitsplatz.
Aus der Schule in die Gesellschaft
Es ist genau diese Ablehnung, dieses Einüben gesellschaftlicher Machtverhältnisse, dass Schule zu einem Ort macht, den Rechte, Klerikale und Konservative im Sinne ihrer Ideologie verändern wollen. Der neue Lehrplan ist keine Revolution. Seine konkrete Umsetzung, Lehrmaterialien, etc. sind noch völlig unklar. Trotzdem kann es real einen Unterschied machen, ob Kinder und Jugendliche sich falsch fühlen und bedroht werden oder wie alle anderen eine scheiß Pubertät haben.
Deswegen: Zeigen wir ihnen, dass ihre Ideen von Gesellschaft und Schule nicht so einfach laufen wie sie denken. Überlassen wir ihnen weder die Straße noch die Bildung! Zeigen wir, dass linke Politik auch immer queere Politik ist.